MATTHIAS KORSINEK

Narben aus Gold” – Kintsugi als Metapher für unser Leben

Kintsugi 金継ぎ ist die japanische Kunst, Zerbrochenes wieder zusammen zu setzen. Es bedeutet sprichwörtlich “goldenes Zusammensetzen”. Kintsugi ist eine aufwendige Reparaturtechnik, bei der Keramikstücke wieder zu einem neuen Ganzen zusammengesetzt werden – die “Narben” werden anschließend mit echtem Gold bedeckt.

Dahinter steht die Idee, dass alle Dinge einzigartig sind – und dass ein Zerbruch nicht das Ende ist. Wenn dieses kunstvolle Zusammensetzen mit viel Liebe und Aufmerksamkeit gelingt, kann aus dem Zerbrochenem und der Unvollkommenheiten ein noch viel stärkeres, neues Kunstwerk erschaffen werden. Dazu bedarf es der meisterlichen Fertigkeit, der Prozessliebe, der Genauigkeit und der Geduld eines Kintsugi-Meisters. Eine wunderschöne Kunst. Es ist eines der schönsten Worte, auf das ich seit Jahren gestoßen bin (und das will etwas heißen, denn ich bin ein Worte-Liebhaber, ja, ein Wort-Fetischist). „Kintsugi“ ist für mich auch deshalb so ein großartigstes Wort, weil das Wort erinnert mich sehr stark an den Begriff der „Gnade“ in der Bibel erinnert. Für mich ist es eine wunderschöne Metapher dafür, wie Gott, unser Schöpfer, mit uns Menschen umgeht. Im Propheten Jeremia werden Menschen und sogar Volker mit einem Gefäß verglichen, das der Gott, der Töpfer, geformt hat. Und ich finde, „Kintsugi“ ist ein großartiges Konzept, mit dem ich als Mentor einen Mentee begleiten kann.

ICH ZIEHE FÜR MICH VIELE LEHREN AUS „KINTSUGI“:

  • Liebe Unvollkommenheiten. Im Leben. In anderen. In Dir selbst. Das Leben ist manchmal ein Chaos, verändert sich stetig und ist bestimmt nicht immer perfekt. Und das ist okay. Tatsächlich kann man Unvollkommenheiten lieben und die Schönheit und Echtheit in ihnen sehen. In Japan nennt man dieses Konzept Wabi Sabi. Wir können  Wabi-Sabi in unser Leben integrieren: Vergib. Vergleiche Dich nicht mit anderen. Lebe in Einfachheit und Bescheidenheit. Kauf Dir nichts.
  • Verstecke Dein Zerbrochenes nicht. Denn dazu neigen viel zu oft. Wir wollen Zerbrochenes in und an uns zu verstecken, denn wir möchten nicht schwach oder unfähig wirken. „Kintsugi“ lehrt uns, Zerbrochenes an uns zu ehren. Weil es Geschichten erzählt – Geschichten von unserer einzigartigen Reise. Die Story von unserer Fähigkeit, zu wachsen und zu heilen. Verstecke Deine Narben also nicht. Deine Narben machen Dich interessant. Zelebriere stattdessen die Erfahrungen und Lektionen, die das Leben Dir geschenkt hat.
  • Verwandele Leid in Chancen. Wir alle leiden manchmal. Da gibt es Stress. Schmerz. Verletzungen. Betrug. Das geschieht besonders, wenn unser Leben eine unerwartete Wende nimmt. Wir verlieren unseren Job. Eine Pandemie oder ein Krieg bricht aus. Wir können unsere Rechnungen nicht mehr bezahlen. Eine Beziehungen bricht auseinander. Wir werden schwer krank. Wir verlieren einen geliebten Menschen. Womit auch immer Du zu kämpfen hast oder wovon Du Dich gerade erholen musst, mit „Kintsugi“ kannst u Leid in eine Erfahrung verwandeln, mit der Du stärker aus der Situation herauskommst.
  • Dreh Perfektionismus den Rücken zu.  Kehr Dich ab von vermeintlich äußerer Schönheit und zugleich eine Annahme und Demonstration von Mut, sich „Zerbruch“ zu stellen. Kintsugi bedeutet auch, sich auf einen längeren Prozess einzulassen – denn die Reparatur benötigt Wochen und Monate und beinhaltet längere Ruhephasen, was häufig übersehen wird.
  • Nimm „Kintsugi“ als Haltung ein. Es braucht Geduld, tiefer Aufmerksamkeit und Sorgfalt für den Prozess – dann kann aus Zerbochenem etwas Einzigartiges, Neues und entstehen. Eine neue Schöpfung, ein neues Kunstwerk. 
  • Mache Kintsugi zu (D)einer lebensverändernden (“heilenden”, “wendenden”) Metapher  für Dein eigenes Leben. Wenn wir diese Philosophie auf unser eigenes Leben übertragen, kann die Kintsugi Kunst die Kraft entfalten, aus einer Situation, die für wir als “zerbrochen” oder “verloren” in Erinnerung haben, zu einer neuen Wendung zu bringen. Es kann uns eine neue Perspektive anbieten und uns eine neue Sichtweise für uns Leben eröffnen.
  • Mach Dir bewusst, dass unser Leben nicht immer linear verläuft, und nicht alles verläuft immer nach Plan. Wie wir unsere Fragmente betrachten und wie wir Verbindungen aus einzelnen Lebensereignissen herstellen, ist unsere eigene Entscheidung. Kintsugi eröffnet uns eine neue Perspektive. Kintsugi lässt uns eine zusammenhängende Geschichte in unseren Fragmenten zu erkennen. Wie können die einzelnen Puzzleteile unseres Lebens, die manchmal zusammenhangslos wirken, ein größeres Bild ergeben? Kintsugi hat die Kraft, unserer Geschichte einen {neuen} Sinnzusammenhang zu geben – das veränderte Gefäß in neuer “Gestalt” hat einen neuen einzigartigen Platz in der Welt und doch zugleich auch seine alte Form nicht vollständig verloren. Es zeigt sowohl das Alte als auch das Neue – mit Narben aus Gold.
  • Lerne es, Brüche wertzuschätzen. Wir können sehen: Jeder Bruch, jedes Einzelteil ist ein Unikat, und anstatt einen Gegenstand wie neu zu reparieren, hebt die uralte Technik die „Narben“ als Teile der neuen Gestalt bewusst hervor und lässt sie glänzen. Sie werden nicht kaschiert, sondern bewusst betont. Sie werden nicht verdrängt, sondern hervorgehoben.
  • Lerne völlig neue Perspektiven zu gewinnen. Wenn wir dies als Metapher für unsere Leben verwenden, lernen wir eine wichtige Lektion: Wir können uns mit der Vergangenheit “versöhnen”, in dem wir uns dem Zebrochenen in unserem Leben bewusst und liebevoll zuwenden. Dadurch entstehen neue Sinnzusammenhänge, die uns Kraft für die Gegenwart geben. Die neue Gestalt macht unsere Erfahrungen sichtbar. Sie ist eine neue, einzigartige und kraftgebende Quelle für unser Leben im Hier und Jetzt. Unser Reichtum an Erfahrungen ist zugleich eine große Ressource für unsere Zukunft. Das Mosaik aus Vergangenem und Neuem ist eine Quelle für unsere Widerstandsfähigkeit. Man nennt das (“Resilienz”). Aus ihr können wir schöpfen, wenn uns neue Herausforderungen begegnen. Kintsugi eröffnet uns eine Sprache, mit der wir offen und ehrlich und zugleich schöpferisch und zukunfts-zugewandt mit unseren Lebenserfahrungen umgehen können. 
  • Entdecke Licht in Deinen Schatten entdecken. Selbst wenn Dinge zerbrechen, können wir neue Schätze entdecken, die im Inneren verborgen waren. Leonard Cohen singt „ “There is a crack in everything, that´s how the light get´s in. Wenn wir uns unseren Fragmenten zuwenden, können wir nicht nur neue Perspektiven gewinnen, wir können auch Neues entdecken, was uns bislang verborgen geblieben ist. Es fällt im übertragenen Sinne “Licht auf unsere Schatten”. Dadurch können aus vermeintlichen Fehlern sogar neue Reichtümer entstehen.

Kintsugi ist ein umfassendes und faszinierendes Thema. Mich lässt es nicht unberührt. Die Kintsugi Kunst fragt uns an, still zu werden, Geduld zu üben – zu warten und zu beobachten. Sie zeigt uns, dass Narben nur langsam heilen. Zugleich können wir in dem Prozess neue Perspektiven gewinnen. Kintsugi kann uns auch lehren, Schönheit neu zu verstehen. Kintsugi lehrt uns, trotz großer Rückschläge konstruktiv eine Zukunft für uns und andere zu finden. Sie lehrt uns auch, dass es Dinge gibt, die ich loslassen darf: Perfektionistische Ansprüche. Bestimmte unrealistische Träume. Schmerz. Verletzungen. Dinge die ich mir selbst und anderen vergeben sollte.